Im Sommer hat mich Frau Li-hsien Chang wegen meiner Kurse zur Vorbereitung auf den Ruhestand kontaktiert. Sie kommt aus Taiwan, studiert zurzeit an der Humboldt Universität zu Berlin Erwachsenenbildung und hat in ihrer Heimat im Rahmen eines Uni-Projektes ebensolche Vorbereitungskurse entwickelt und durchgeführt. Diesen interkulturellen Austausch fand ich so spannend, dass ich Sie gerne daran teilhaben lassen möchte. Frau Chang war so lieb, gemeinsam mit mir unser Gespräch noch einmal „auf Papier“ zu bringen.

Die Babyboomer gehen in den Ruhestand

Katharina Mahne: In Deutschland wachsen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer (geboren zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre) langsam ins Rentenalter hinein. Für viele Arbeitgeber bedeutet das, dass ihnen ein gutes Drittel der Belegschaft in den nächsten Jahren verloren geht. Für die Beschäftigen bedeutet das, dass durchschnittlich etwa 20 Jahre Lebenszeit im Ruhestand gestaltet werden wollen.

Wie ist denn die demografische Entwicklung in Taiwan?

Li-hsien Chang: Taiwan ist eine der am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt und gilt seit 2018 als „Aged Society“ mit einem Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen von mehr als 14%. Der Eintritt in die „Super-Aged Society“ (65+ bei 20%) wird für das Jahr 2026 erwartet. Diese – im Vergleich zu Deutschland – rasante Alterung bedeutet zugleich Herausforderung und Chance sowohl für die Gesellschaft als auch für die Unternehmen und das Individuum.

Ähnlich wie in Deutschland, ist das reguläre Renteneintrittsalter in Taiwan im Jahr 2008 von 60 auf 65 Jahre angehoben worden. Allerdings liegt das durchschnittliche tatsächliche Renteneintrittsalter laut dem Ministerium für Arbeit 3,5 Jahre früher. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer (in Taiwan von 1945 bis 1965) gehen heute in die Rente und auch in Taiwan werden sie durchschnittlich 20 Jahren Lebenszeit im Ruhestand verbringen. Das ist ein Viertel der gesamten Lebenserwartung! Vor diesem Hintergrund sind die Übergangssituationen in den Ruhestand und die Vorbereitungsmaßnahmen in Taiwan und Deutschland durchaus zu vergleichen.

Erfahrungswissen geht in den Ruhestand

Katharina Mahne: Mit den Beschäftigten geht nicht selten jahrzehntelang aufgebautes Erfahrungswissen in den Ruhestand. Aus Sicht der Arbeitgeber macht es also Sinn, den Ausstieg aus dem Berufsleben gemeinsam mit den Beschäftigten zu planen. Wissensmanagement und Wissenstransfer sind Instrumente, die viele Arbeitgeber inzwischen nutzen, um diese Übergänge für beide Seiten gut zu gestalten. Die wissensgebende Person kann so sicherstellen, dass ihr Lebenswerk festgehalten wird und die Arbeit in ihrem Sinne fortgeführt werden kann. Die wissensnehmende Person kann sich leichter und schneller in das neue Aufgabengebiet einarbeiten. Das nützt gleichzeitig dem Arbeitgeber, es kommt zu weniger Wissensverlusten und die Stellenübergabe ist effizienter. Gibt es ähnliche Prozesse in Taiwan? Wie gehen Arbeitgeber dort mit ausscheidenden Mitarbeitenden um?

Li-hsien Chang: Im demografischen Wandel sind Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen wichtigere Aufgaben für Unternehmen als früher. In Taiwan werden besonders altersfreundliche Unternehmen vom Bundesministerium für Arbeit finanziell gefördert, wenn sie die Arbeitsanforderungen für ältere Mitarbeiter anpassen und das intergenerationale Lernen am Arbeitsplatz fördern. Häufig werden vier unterschiedliche Maßnahmen umgesetzt, um sowohl Erfahrung und Wissen als auch die berufsbezogenen Werthaltungen und die Entscheidungsfähigkeit von älteren Arbeitnehmer*innen weiterzugeben: Mentoring, altersgemischte Teams, intergenerationaler Wissenstransfer, online Kommunikations- und Informationsplattformen.

Durch Mentoring werden die jüngeren Mitarbeitenden von älteren Mentoren betreut, um ihre Aufgaben mithilfe deren Erfahrung besser zu erledigen. Zusätzlich zu dieser wissensgebenden Rolle von älteren Mitarbeitern werden intergenerationale Kooperation und Wissenstransfer in altersgemischten Teams gefördert. Online Kommunikations- und Informationsplattformen werden für den effizienten Informationsaustausch genutzt. Die Vorteile davon sind nicht nur eine Reduzierung der Kosten an Weiterbildung, sondern auch die Förderung des Arbeitsklimas und des gegenseitigen Verständnisses zwischen den Generationen. All dies kann schließlich die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen verbessern.  Allerdings sollte man bedenken, dass die Verbreitung dieser Maßnahmen noch  eingeschränkt ist und das Gelingen von der Art der Kommunikation und unterschiedlichen Vorstellungen von Arbeit abhängt.

Leben um zu arbeiten – arbeiten um zu leben?

Katharina Mahne: Ja, die Babyboomer in Deutschland sind eine Generation von Arbeitnehmer*innen, denen – auch in Abgrenzung zu anderen Generationen – bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Arbeit hat für sie einen zentralen Stellenwert im Leben, sie „leben, um zu arbeiten“. Das äußert sich dann zum Beispiel darin, dass selbstverständlich Überstunden gemacht werden, wenn etwas fertig werden muss. Oder man kommt eben auch mit einem Schnupfen ins Büro, um die Arbeit und die Kolleg*innen nicht im Stich zu lassen.

Also eine Generation, die durchaus Wert auf Leistung und auch Disziplin legt. Im Vergleich zu den Arbeitsbedingungen in asiatischen Ländern ist das aber vermutlich harmlos. Wie sieht es in Taiwan aus mit dem Stellenwert von Arbeit?

Li-hsien Chang: In Taiwan ist Arbeit generell der größte Teil des Lebens – für jede Generation. Aber die Einstellung zur Arbeit ist je nach Generation schon unterschiedlich. Für die Babyboomer – besonders im wirtschaftlichen Aufschwung – ist es üblich, die Arbeitsleistung als den wichtigsten Wert im Leben zu betrachten und sie ist zentral für die Selbstdefinition. Das bedeutet, sie übernehmen übermäßig viel Arbeit und machen ständig Überstunden, wenngleich ohne Bezahlung.

Im heutigen wirtschaftlichen Abschwung fällt es der jüngeren Generation daher schwer, die Arbeit als den Sinn des Lebens zu sehen und Loyalität mit dem Unternehmen zu leben. Anstatt eine große Arbeitsleistung zu bringen, erwarten die Jüngeren von der Arbeit nur, dass sie ihre Familie finanzieren können. Sie wollen sich nach der Arbeit ausruhen und sich dem Familienleben widmen. Aber mit 7 Urlaubstagen pro Jahr für Berufseinsteiger ist eine Work-Life Balance wohl nur ein Traum…

Katharina Mahne: Für die Babyboomern ist die Wertschätzung ihrer Arbeitsleistung zentral, das Gefühl, gebraucht zu werden, ist wichtig. Meine Kurse zur Vorbereitung auf den Ruhestand empfinden viele Teilnehmende daher als eine Wertschätzung durch den Arbeitgeber. Sie werden für zwei Tage von der Arbeit freigestellt und müssen für den Kurs nichts bezahlen. Weiterbildungen richten sich sonst vor allem an jüngere Beschäftigte, die älteren fühlen sich da oftmals außen vor.

Wie verbreitet sind solche Vorbereitungskurse in Taiwan?

Ruhestandsvorbereitung – noch viel zu selten

Li-hsien Chang: Ruhestandsvorbereitung gilt trotz der Alterung noch als ein neues Konzept. Es ist bisher auch meistens auf die finanzielle Planung beschränkt. Das Aging and Education Research Center, wo ich als Lehrassistentin gearbeitet habe, bietet seit 2017 Vorbereitungskurse mithilfe der Förderung des Bundesministeriums für Arbeit an. Anfangs waren die Kurse nur für Beamte gedacht, später wurden alle zugelassen. Die Teilnehmenden aus verschiedenen Arbeitsbereichen befinden sich entweder noch vor oder schon in der Rentenphase und wollen vor allem auf veränderte Anforderungen und Rollenwechsel vorbereitet werden.

Katharina Mahne: Die Themen, die die Teilnehmenden in meinen Kursen beschäftigen, sind bei den unterschiedlichen Menschen meist sehr ähnlich. Es geht vor allem darum, gesund zu bleiben, sinnvolle Beschäftigungen und eine neue Tagesstruktur zu finden. Für manche – vor allem Frauen – sind auch die pflegebedürftigen Eltern ein wichtiges Thema.

Auch wenn viele mit ähnlichen Themen kommen – der Umgang damit ist sehr unterschiedlich. Der Austausch in der Gruppe untereinander ist deswegen ein wichtiger Bestandteil meiner Kurse. Ich bin immer wieder überrascht, wie offen die Teilnehmenden erzählen und wie schnell sich eine vertrauliche und stützende Atmosphäre entwickeln kann.

Welche Themen tauchen in den Kursen in Taiwan auf? Sind das ähnliche Anliegen – oder ganz andere? Wie funktionieren die Menschen dort als Gruppe?

Taiwan und Deutschland – ähnlicher als gedacht

Li-hsien Chang: Um einen erfolgreichen, zufriedenen Ruhestand vorbereiten zu können haben wir den Kurs in Taiwan an vier wichtigen Bereichen des Lebens orientiert: Gesundheit, Liebe & Partnerschaft, Spaß & Freizeit sowie Arbeit & soziales Engagement. Ziel ist es, den Teilnehmenden anhand dieser Bereiche ihren gegenwärtigen Standpunkt und ihren zukünftigen Wunschzustand deutlich zu machen. Zu jedem Bereich haben die Dozentin und ich eigene Lebensgeschichten als Beispiel im Plenum mitgeteilt. Sobald auch wir über private Themen gesprochen haben, hatte ich das Gefühl, dass die Teilnehmer sehr aufgeschlossen waren. Das war erstaunlich.  Und durch die Erzählung der anderen konnten eigene Gedanken auch noch klarer werden.

Katharina Mahne: Wenn ich die Teilnehmenden in meinen Kursen ganz grob in zwei Gruppen aufteilen müsste, dann wären das die folgenden: Eine Gruppe trennt sehr klar zwischen Arbeit und Privatleben. Diese Menschen haben eher selten Probleme, Ideen zur Gestaltung ihrer Zeit im Ruhestand zu entwickeln. Da geht es eher darum, gesund rüber zu kommen und die ganzen Vorhaben unter einen Hut zu bringen und sinnvoll zu strukturieren. In der anderen Gruppe versammeln sich eher Menschen, für die ihre Berufstätigkeit eng mit persönlichen Anliegen verknüpft ist, die sich im Job selbst verwirklichen. Da sind die Fragen dann eher: was gibt mir Sinn im Ruhestand, wofür kann ich noch nützlich sein?

Finden Sie in Taiwan ähnliche Muster? Wie würden Sie das Spektrum der Teilnehmenden beschreiben?

Li-hsien Chang: Es scheint, dass die Art der Berufstätigkeit und der Freiwilligkeitsgrad für die Entscheidung, in die Rente zu gehen wesentlich für die Planung und Gestaltung ihres Ruhestands sind. Die Teilnehmenden, die konzeptionelle Aufgaben am Arbeitsplatz hatten, haben beispielweise eine größere Akzeptanz, Ziele zu formulieren. Im Vergleich fällt es anderen, die vorrangig administrative Tätigkeiten hatten, eher schwer, solche planenden Aufgaben zu bewältigen. Für manche ist eine Lebensplanung für den Ruhestand schwierig, weil sie aufgrund ihrer von Bildungsbiographie und Lebenssituation begrenzten Handlungsspielräume nicht so viel verändern können. Deswegen ist es eine wichtige Aufgabe im Vorbereitungskurs, auch ein Bewusstsein für individuelle Grenzen zu entwickeln.

Ruhestandsvorbereitung – ganz konkret

Katharina Mahne: Meine Kurse erstrecken sich in der Regel über zwei volle Tage. Am ersten Tag geht es erstmal darum, dass die Teilnehmenden im Kurs ankommen – manchmal gar nicht so einfach, aus dem Alltagstrott auszusteigen. Zu Beginn räume ich auch gerne mit ein paar Vorurteilen auf, die es in Bezug auf das Älterwerden gibt.

Wir arbeiten dann zunächst mit der aktuellen Situation: was bedeutet mir meine Arbeit, wie gehe ich mit Stress um, was sind meine persönlichen Ressourcen, gibt es etwas, das ich noch ändern oder erreichen will? Am zweiten Tag schauen wir dann in die Zukunft. Ich gebe ein paar Tipps, um beliebte Ruhestandsfallen zu umgehen. Die Teilnehmenden reflektieren, was sich mit dem Ruhestand verändert und was sie vielleicht ganz aktiv verändern möchten. Wir arbeiten zu Zielen, zu Motivation, entwickeln eine neue Tagesstruktur und ich bringe eine Liste mit möglichen Aktivitäten mit. Input, Selbstreflexion und Diskussion wechseln sich immer ab.

Welche Themen und Methoden nutzen Sie in Ihren Kursen in Taiwan?

Li-hsien Chang: Der Kurs in Taiwan findet jeweils an vier vollen Tagen im Laufe eines Monats statt. Weil die vertrauliche und positive Atmosphäre eine entscheidende Rolle für den Austausch spielt, fangen wir mit einer interaktiven Kennenlernenrunde und mit einem Brettspiel an. Danach geht es um die Herausforderungen und Chancen im demografischen Wandel. Wir haben auch über Assoziationen in Bezug auf das Älterwerden diskutiert, und uns Gedanken gemacht, wie wir unsere Vorurteile verändern können. Dann werden der eigene Lebenslauf und die Biografie anhand der genannten vier Bereiche des Lebens reflektiert. So können Verhaltensmuster erkannt und Ziele für das kommende Leben formuliert werden. Zwischendurch haben wir einen Gast-Referenten eingeladen, um seine Erfahrung und auch unvorhersehbare Veränderungen und dessen Strategien des Umgangs damit zu verdeutlichen. Zum Schluss werden die zur Verfügung stehenden Ressourcen analysiert und ein 90-Tages Plan für die erste Zeit im Ruhestand erstellt.

Es gibt kein Leitbild oder ein Modell für einen gelungenen Ruhestand, weil das Alter eine hochindividuelle Lebensphase ist. In diesem Sinne haben solche Vorbereitungskurse – sowohl in Taiwan als auch in Deutschland – eine kaum zu überschätzende Funktion. Sie fördern Selbstreflexion mithilfe des Austauschs, sie bieten Orientierung durch die selbständige Planung und sichern so weiterhin eine selbstbestimmte Lebensführung nach den eigenen klaren Vorstellungen.

Liebe Frau Chang – herzlichen Dank!

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